10.

Hanna weckte Julia kurz nach halb fünf. Draußen wurde es langsam hell und die Kühle der Nacht ließ sie frösteln, als sie sich im kleinen Bad über dem Waschbecken die Zähne putzte. Frühstück gab es nicht. Zur Zeremonie, die bei Sonnenaufgang stattfinden würde, erschien man nach altem Shoshoni-Brauch nüchtern.

Als Julia auf den Vorplatz gelaufen kam, sah sie, dass Boyd Tommy bereits in den alten Truck gebracht hatte, wo der Junge unruhig auf dem Lenkrad herumtrommelte und Tierlaute von sich gab.

»Ihr müsst den Leihwagen nehmen«, sagte der alte Mann, der wie gewöhnlich seine Arbeitskleidung trug. »Der Tank von Adas Ford ist so gut wie leer.«

Julia blickte ihren Großvater überrascht an.

»Will Grandpa nicht mitkommen?«, fragte sie ihre Granny. Was war mit der Abschiedszeremonie für seinen Sohn? Würde der alte Mann nicht dabei sein?

»Einer von uns beiden muss bei Tommy bleiben«, sagte Ada. »Es geht nicht anders. Der Junge hatte eine schlimme Nacht.« Sie nickte zum Truck hinüber. »Wir können ihn nicht mitnehmen und mit Simon allein lassen können wir ihn auch nicht. Es könnte sein, dass Tommy ausrastet.«

Boyd schien trotz seiner Taubheit mitbekommen zu haben, worum es ging. »Ist nicht schlimm, Julia«, sagte er. »Außerdem weiß ich, wie sehr Simon sich auf das Sommertreffen freut. Vielleicht lernt er dort ja endlich ein Mädchen kennen.« Boyd zwinkerte ihr zu.

Julia sah ihn an und fragte sich, ob es ihm wirklich so leichtfiel, wie er tat. Sie wusste nur eins: Ihr Großvater hatte ein gutes Herz.

Simon erschien mit Schlafmustern auf dem Gesicht und Pepper umkreiste bellend den Chevy. Wie immer wollte er mit. Aber Simon schickte ihn mit einem Seitenblick auf Ada fort.

Hanna setzte sich ans Steuer, Ada auf den Beifahrersitz. Simon und Julia hockten auf der Rückbank. Pepper rannte ihnen noch ein paar Meter kläffend hinterher, bevor er aufgab und mit eingezogenem Schwanz zurückhumpelte.

Julia musterte Simon aus den Augenwinkeln. Heute trug er saubere und vor allem löcherfreie Kleidung. Ausgeblichene Jeans, ein leuchtend rotes T-Shirt und darüber sein unvermeidliches kariertes Hemd. Diesmal war es grün-weiß gemustert.

Es war eine stille Fahrt und Julia war froh darüber. Ada nickte immer wieder für ein paar Minuten weg und auch Simon schien zu schlafen, oder zumindest tat er so.

Sie kamen an der Halde der Goldmine vorbei und folgten den Wegweisern in die Berge. Wie ein grauer Riese erhob sich der Mount Tenabo gegen den rötlichen Morgenhimmel. Julia ging durch den Sinn, dass sie erst vier Tage hier war. Dabei hatte sie das Gefühl, als wären es schon vier Wochen. So etwas hatte sie noch nie erlebt und sie ahnte, dass es eine Bedeutung hatte.

Hanna parkte den Chevy zwischen zwei Transportern am Wegesrand und sie stiegen aus. Die Luft war noch kühl so weit oben in den Bergen und Julia schloss fröstelnd den Reißverschluss ihrer Jacke. Sie hatte ihre Khakis angezogen, die man in Shorts umwandeln konnte, und trug eine dunkelrote Joggingjacke über einem ärmellosen Top. An einem Band um ihren Hals hing ein kleiner Lederbeutel, der Talisman ihres Vaters. Während der Zeremonie wollte sie den Lederbeutel dem Land übergeben, das ihr Vater so geliebt hatte.

Das Camp schien sich über Nacht gefüllt zu haben, es blinkten viel mehr bunte Zelte zwischen den Beifußsträuchern hervor als am gestrigen Tag. Nicht weit vom Küchenzelt hatte man das große Versammlungszelt aufgebaut.

Ein Großteil der Bewohner war schon auf den Beinen. Einige schienen eben erst aus ihren Unterkünften gekrochen zu sein und sahen noch ganz verschlafen aus. Ein alter Mann stand auf dem von Büschen umgebenen Platz, in dessen Mitte ein Feuer loderte. Er schlug eine Handtrommel und rief die Leute zur Sonnenaufgangszeremonie zusammen. Nach und nach sammelten sich die Anwesenden, um einen großen Kreis um den Trommler zu bilden.

»Das ist Caleb, der Medizinmann«, raunte Hanna ihrer Tochter zu.

Julia stutzte. Einen Medizinmann hatte sie sich anders vorgestellt. Irgendwie geheimnisvoller oder auch ein wenig Furcht einflößend. Doch Caleb Lalo war ein kleiner Mann mit kurz geschorenem Haar und freundlichen braunen Augen. In Jeans und Sweatshirt gekleidet, fiel er unter den anderen überhaupt nicht auf. Julia hatte sich vorgestellt, dass die Shoshoni zur Zeremonie in traditioneller Kleidung erscheinen würden, aber sie hatte sich getäuscht.

Sie stellte sich zwischen ihre Mutter und Simon in den Kreis, musterte die Gesichter der anderen und merkte, dass auch sie neugierig beobachtet wurde. Einige der Anwesenden erkannte sie vom gestrigen Tag wieder und begrüßte sie mit einem Kopfnicken. Govinda war da, Frank Malotte und die anderen Männer und Frauen, die beim Aufbau der beiden großen Zelte geholfen hatten. Julia vermisste Ian, aber der schlief vermutlich noch.

Von Jason und seiner Familie war nichts zu sehen und Julia fragte sich, warum sie nicht gekommen waren. Dass Veola auf diese Weise reagierte, konnte sie verstehen, aber was war mit Tracy und Jason? Sollte der Groll ihrer Halbgeschwister gegen die zweite Frau ihres Vaters so groß sein, dass sie der Abschiedszeremonie demonstrativ fernblieben?

Caleb begann zu den dumpfen Schlägen der Trommel zu singen. Der Medizinmann sang auf Shoshoni und einige Worte verstand Julia. Jede Strophe beendete er mit Shundahai und die Anwesenden sprachen dieses Wort nach. Julia kannte die Bedeutung. Es hieß: Frieden und Harmonie für alle Wesen.

Schon als kleines Kind war sie fasziniert gewesen, wenn ihr Vater versucht hatte, ihr einige Worte seiner Muttersprache beizubringen. Dass ein einziges Shoshoni-Wort genügte, um etwas auszudrücken, wofür man eine ganze Reihe deutscher Worte brauchte.

Julia war so gebannt von der wohlklingenden Sprache des alten Mannes, dass sie zusammenzuckte, als Simon plötzlich nach ihrer Hand griff. Auch alle anderen fassten sich an den Händen. Julia konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zum letzten Mal die Hand ihrer Mutter gehalten hatte. Hannas Hand war kalt und feucht. Simons dagegen fühlte sich warm und trocken an. Irgendwie tröstlich. Seine Handflächen an ihren, schwielig und rau von der Arbeit auf der Ranch. Sie blickte ihm kurz ins Gesicht, wandte den Kopf aber sofort wieder ab.

Einen Moment später drängte sich jemand zwischen sie. Es war Ian. Er hatte noch ganz kleine Augen und trug vermutlich seinen Schlafanzug: ein weites Sweatshirt und schlafzerknitterte Jogginghosen. Mit einem strahlenden Guten-Morgen-hier-bin-ich-Lächeln griff er nach Simons und Julias Händen.

Caleb begann von der Erde zu sprechen und von der Zukunft. Die Sonne war noch hinter dem Mount Tenabo versteckt und Julia fror in der kühlen Morgenluft. Sie begann zu zittern, versuchte aber, sich zusammenzureißen. Ian zog sein Sweatshirt aus und gab es ihr. Dankbar zog sie es über. Es verströmte einen süßlichen Duft und wärmte wunderbar.

Als der Medizinmann schließlich mit einer Dose herumging, damit jeder eine Handvoll getrockneten Salbei herausnehmen konnte, mischten sich ein paar Spätankömmlinge in den Kreis. Es waren Ja-son, seine Mutter Veola, ein Mädchen, das Tracy sein musste, und eine blonde Frau, die zwei kleine Kinder bei sich hatte. Die Frau sah jung aus, sehr jung, in ihren hautengen Jeans und dem bauchfreien Top. Die Kinder, ein Junge und ein Mädchen, hatten dreckver

schmierte Gesichter und steckten in abgerissenen Sachen.

Als das Mädchen anfing zu weinen, nahm Jason es auf den Arm.

Julia musterte Tracy, suchte nach Ähnlichkeiten mit sich selbst und fand nicht viele. Ihre Halbschwester war mollig und hatte ein rundes Gesicht. Das Haar trug sie straff nach hinten gekämmt, was wenig vorteilhaft aussah. Genauso wie die engen schwarzen Leggins, die Tracys Körperfülle noch betonten.

Plötzlich setzte der dumpfe Schlag der Trommel wieder ein und das Gemurmel der Anwesenden erstarb. Ada trat in die Mitte des Zirkels ans Feuer, um zu sprechen. Julia atmete tief durch. Es war so weit. Die rauchige Stimme ihrer Großmutter klang laut und klar durch die Morgenluft, als sie anfing von John zu erzählen, ihrem einzigen Sohn. Dass er vor vielen Jahren aus Newe Sogobia, der Heimat der Shoshoni, weggegangen war, um in einem anderen Land zu leben, und dass er dort gestorben war.

Julia hörte die Bitterkeit, die aus den Worten ihrer Großmutter klang. Konnte sie ihrem Sohn immer noch nicht verzeihen? Nicht einmal heute?

»Johns Kinder sind gekommen, um zusammen mit ihren Müttern und allen, die ihn gekannt haben, von ihm Abschied zu nehmen. Johns Körper wurde dort begraben, wo er gestorben ist«, sagte Ada, »wie es unser Brauch will. Aber seinen Geist werden wir heute nach Newe Sogobia zurückholen, damit er frei sein kann.«

Julia, vom plötzlichen Gefühl der Trauer überwältigt, konnte die Tränen nicht zurückhalten, die in ihr aufstiegen. Aber es war eine andere Art Trauer als jene, die sie kurz nach dem Tod ihres Vaters empfunden hatte. Sie wallte auf und trug sie mit sich fort, anstatt sie niederzudrücken.

Veola, Jason und Tracy traten zum Feuer, streuten Salbei in die Flammen und verharrten mit gesenkten Köpfen. Nur zu gerne hätte Julia gewusst, was in ihnen vorging.

Nach einer Weile wandten sich die drei vom Feuer ab und kehrten in den Kreis zurück. Hanna zog an Julias Hand. Zusammen mit ihrer Mutter ging auch sie auf das Feuer zu, streute Salbei hinein und übergab den Medizinbeutel ihres Vaters den Flammen. Als Julia dort neben ihrer Mutter stand, beim Klang der Trommel am Fuße des Tenabo, musste sie daran denken, wie sie sich auf der Beerdigung in Deutschland gefühlt hatte. Damals hatte sie nicht viel von ihrer Umgebung wahrgenommen, hatte sich wie eine leere Hülle gefühlt, die da am offenen Grab stand. Hier jedoch erschien ihr alles ganz wirklich. Ganz nah.

Julia hatte das Gefühl, zum ersten Mal wirklich Abschied von ihrem Vater zu nehmen. Von einem Mann, den sie gar nicht richtig gekannt hatte. Das wusste sie nun.

Die ersten Sonnenstrahlen lugten über den dunklen Berg und Julia musste blinzeln. Endlich wurde es warm. Sie stellten sich in den Kreis zurück und noch einmal fassten alle Anwesenden einander an den Händen.

Nach Beendigung der Zeremonie strömten die meisten zum Küchenzelt, wo Dominic mithilfe zweier Indianerinnen Frühstück vorbereitet hatte. Zuerst kamen die Alten an die Reihe, dann die Kinder, zuletzt alle übrigen Gäste.

Julia zog sich in den Schatten einer Pinie zurück, sie musste einen Moment allein sein, bevor sie sich wieder unter Menschen begeben konnte. Niemand störte sie und das war gut so. Sie atmete den harzigen Duft der Pinie und fühlte sich wie von einer schweren Last befreit. Die Seele ihres Vaters war hier, das spürte sie ganz deutlich.

Wenig später fasste sie jemand an der Schulter und sie drehte sich erschrocken um. Jason kauerte hinter ihr, das kleine blonde Mädchen auf dem Arm. »Guten Morgen, Schwesterherz. Hast du mal einen Augenblick Zeit?«

Sie stand auf. »Warum nicht.«

Jason führte Julia zu seiner Schwester und der blonden jungen Frau. Die beiden erzählten lachend und rauchten. Der kleine Junge hockte zu Füßen seiner Mutter und spielte mit einer roten Spiderman-Figur. Er hatte eine frische, zwei Zentimeter breite Wunde zwischen Unterlippe und Kinn, um die sich augenscheinlich niemand gekümmert hatte. Blut und Rotz bildeten eine Kruste auf seinem Gesicht.

»Tracy«, sagte Jason, »das ist unsere Schwester.«

Julia nannte ihren Namen und konnte nicht verhindern, dass sie rot wurde.

Tracy unterbrach ihr Gespräch und setzte ein freundliches Lächeln auf. »Hi, Julia. Schön, dich zu sehen.«

Erst jetzt bemerkte Julia Tracys kleines Bäuchlein, das vermutlich nicht auf ihren gesunden Appetit zurückzuführen war.

Höflich erwiderte sie die Begrüßung.

»Und das ist Ainneen, meine Freundin«, sagte Jason.

»Hi, Julia.« Die Blonde lächelte und zeigte eine Reihe schadhafter Zähne, die Hälse von Karies zerfressen. »Freut mich, dich kennenzulernen.«

Jason strubbelte dem Jungen über den Kopf. »Das ist Dylan und die kleine Prinzessin hier heißt Carli.«

Prinzessin? Das Gesicht des Mädchens war völlig verschmiert, die langen Haare verfilzt. Von ihren Milchzähnen ragten nur noch bräunliche Stummel aus dem Gaumen. Wahrscheinlich wurden die beiden Kinder mit Cola und Crackern ernährt und auch auf Reinlichkeit schien Ainneen bei ihnen wenig Wert zu legen. Dabei sah Jasons Freundin selbst so aus, als wäre sie direkt einem Modemagazin entsprungen.

Die beiden jungen Frauen setzten ihr Gespräch fort. Julia nickte hinüber zum Küchenzelt, in dem unverkennbar Dominics Lachen aus dem Stimmengewirr herausschallte.

»Ich bekomme langsam Hunger.«

»Ich auch«, meinte Jason. »Los, Dylan«, sagte er zu dem Jungen, »holen wir uns was zu essen.« Der Kleine ließ sich das nicht zweimal

sagen und folgte ihnen.

»Sind das deine Kinder?«, fragte Julia.

Jason lachte. »Nein. Sieht man das nicht?«

Sie hob die Schultern. »Hätte ja sein können. Was ist denn passiert mit dem Kleinen?«

Sie stellten sich in der Schlange vor dem Küchenzelt an. Jason erzählte ihr, dass Dylan beim Klettern von der Couch gefallen war und sein verbliebener Schneidezahn die Unterlippe durchstoßen hatte. Es sah nicht so aus, als ob der Junge bei einem Arzt gewesen wäre und Julia verspürte den Drang, die Wunde zu säubern und wenigstens mit einem Pflaster abzudecken.

»Sieht übel aus«, sagte sie stirnrunzelnd.

»Ach was, das heilt schon wieder. Dylan ist hart im Nehmen.«

Julia war an der Reihe und nahm von Dominic einen in Fett gebackenen Teigfladen entgegen, über den sie Ahornsirup goss. Sie holte sich einen der riesigen Äpfel aus der Schüssel, die aussahen, als wären sie auf Hochglanz poliert worden.

Dann entdeckte sie Simon. Er hatte den Ausschank der Getränke übernommen. Sie lächelte ihm zu, als sie ihn um einen Becher Tee bat. Aber sein Blick, der an Ians Sweatshirt hängen blieb, das sie immer noch trug, blieb verschlossen.

»Sehen wir uns später?«, fragte sie.

Simon reichte ihr den Becher. »K-eine Ahnung, wann ich hier wegkann.«

Aus irgendeinem Grund schien er gekränkt zu sein. Was war nur los mit ihm? Was hatte sie falsch gemacht?

Julia schaute sich nach Jason um, aber der war mit den Kindern wieder zu Ainneen und seiner Schwester zurückgegangen. Julia setzte sich abseits des Küchenzeltes auf eine große Kühlbox und aß ihr Fladenbrot. Auf einmal fühlte sie sich allein zwischen all den Menschen. Mal spürte sie neugierige, mal verstohlene Blicke auf sich ruhen, aber niemand setzte sich zu ihr. Und wo ihre Mutter abgeblieben war, wusste sie nicht.

Julia dachte daran, wie anders die Dinge laufen würden, wenn ihr Vater hier wäre. Mit Stolz hätte er sie den anderen Familienmitgliedern vorgestellt. Bestimmt waren einige der Leute hier Verwandte von ihr und sie wusste es nicht einmal. Er hätte ihnen erzählt, dass seine Tochter gerne Geschichten schrieb, von denen bereits zwei am Schultheater aufgeführt worden waren. Dass sie eine gute Schwimmerin war und eine experimentierfreudige Köchin.

Aber ihr Vater war tot und konnte nichts mehr für sie tun. Ihre Mutter hatte genug mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen. Von nun an musste Julia die Steine, die auf ihrem Weg lagen, alleine wegräumen.

Wie verloren und traurig sie aussieht, dachte Simon, als er Julia auf der Kühlbox sitzen sah. Er kannte das Gefühl nur zu gut. Unter fremden Menschen fühlte er sich noch einsamer, als wenn er wirklich alleine war.

Es sah ganz danach aus, als ob es ihr ebenso ging.

Simon war glücklich gewesen, als er während der Sonnenaufgangszeremonie Julias Hand hatte halten dürfen. Dabei hatte er das Gefühl gehabt, ganz leicht unter Schwachstrom zu stehen, und das war keineswegs unangenehm gewesen. Aber dann hatte sich Mr Dreadlock zwischen sie gedrängt und Julia auch noch sein Sweatshirt geliehen. Sie schien ihn zu mögen. Natürlich. Er sah gut aus, war witzig und konnte sich in vollkommenen Sätzen mit ihr unterhalten. Was mochte Mr Dreadlock in der kurzen Zeit alles über Julia erfahren haben? Ein Gefühl schmerzlichen Bedauerns überkam ihn.

Simon, sagte er zu sich selbst, du verhältst dich lächerlich. Aber er konnte nichts dagegen tun. Die Gedanken und Gefühle waren da. Das Schlimmste daran war, dass er sie nicht in Worte fassen konnte.

Er sah auf. Julia hockte immer noch einsam auf der Kühlbox und kaute an ihrem Apfel herum.

Kurz entschlossen übergab Simon seinen Job im Küchenzelt an ein dickes, freundliches Mädchen und ging hinüber zu Julia. Er setzte sich neben sie ins Gras, die Beine im Schneidersitz.

»W-ar das Brot gut?«

»Ja, es war köstlich. Hast du denn heute überhaupt schon etwas gegessen? Ich sehe dich immer nur arbeiten.«

»Ja, hab ich.« Das war eine Lüge, aber diesmal stolperte er ausnahmsweise nicht darüber. Simon hoffte, sein Magen würde nicht plötzlich anfangen zu knurren und ihn verraten. Er war es nicht gewohnt, dass jemand an ihn und seine Bedürfnisse dachte.

»Hast du dich m-it deinem Bruder angefreundet?«

»Ich komme klar mit Jason. Er ist viel netter, als ich dachte.«

Simon unterdrückte den Drang, Julia die Wahrheit über ihren Halbbruder zu erzählen. Über seine Drogengeschichten und seine Vorstrafen. Warum sollte sie ihn nicht in guter Erinnerung haben, wenn sie wieder abreiste? Im Augenblick war Jason Temoke außerdem das kleinere seiner Probleme.

Er fand einen flachen grünen Stein neben seinem Schuh, hob ihn auf und ließ ihn von einer Hand in die andere gleiten. Dabei überlegte er krampfhaft, wie er das Gespräch ganz unverfänglich auf Mr Dreadlock bringen konnte, ohne seine Eifersucht zu offenbaren. Gerade wollte er zu einer Frage ansetzen, da kam Julia ihm zuvor.

»Sag mal, ist Tracy etwa schwanger?«

»Ich g-g-glaub, Ja.« Der grüne Stein glitt in seine Linke.

»Hat sie jemanden? Ich meine, gibt es einen Vater zu dem Kind?«

»Ich g-laub, Nein.«

»Und Ainneen?«

»Ainneen?« Simon hielt die Hände still und verdrehte die Augen. »Was soll sein mit Ainneen?«

»Wer ist der Vater ihrer Kinder?«

»K-K-Keine Ahnung. Irgendeiner von den Jungs, die in der Mine arbeiten.«

»Ist Jason schon lange mit ihr zusammen?«

»Immer mal wieder.« Simon stöhnte innerlich. War das wirklich er, der dieses Gespräch führte? Eldora-Valley-Klatsch von der übelsten Sorte.

»Wer ist eigentlich dieser Govinda?«

Simon unterdrückte ein Seufzen. »Ein c-c-cooler Typ aus Kalifornien. Sein Truck fährt mit altem Frittieröl von McDonald’s.«

Julia lachte. »Du nimmst mich auf den Arm, oder?«

»Tu ich nicht. F-rag ihn doch selbst. Er hat eine geniale Filteranlage auf der Ladefläche.«

»Er sieht wie ein komischer Vogel aus.«

»Govinda ist in Ordnung.«

»Kennst du seinen Sohn?«

»Seinen Sohn?«

Julia lachte. »Du hast vorhin seine Hand gehalten.«

»Nein«, brummte Simon. »Ich wusste n-icht, dass er einen Sohn hat.«

»Er heißt Ian und ist mächtig nett.«

Mächtig nett! Was musste man tun, um diesen Orden von einem Mädchen wie Julia zu bekommen? Würde er sich jetzt anhören müssen, wie toll Mr Dreadlock war?

Musste er nicht.

»Wann bist du eigentlich nach Hause gekommen gestern?«, fragte sie ihn stattdessen. »Ich habe den Truck gar nicht gehört.«

»Es war spät.«

»Das glaube ich dir aufs Wort. Du siehst müde aus.«

Ihr Blick ruhte auf seinem Gesicht und er senkte den Kopf. »Werd m-ich nachher ein bisschen aufs Ohr hauen.« Verlegen betrachtete er den Stein in seiner Hand.

»Zeig mal her!«, sagte Julia. »Der ist ja richtig grün.«

Simon gab ihr den Stein und sie strich mit den Fingern nachdenklich über die glatte Oberfläche.

»G-G-Grüne Steine sind der Atem von Pflanzen, die in der Nacht singen«, sagte er.

Julia gab ihm den Stein zurück, mit einem befremdeten Ausdruck im Gesicht.

Warum hatte er nicht den Mund halten können? Das fiel ihm doch sonst nicht schwer? Wahrscheinlich war sie nun endgültig davon überzeugt, dass er ein Spinner war.

Simon rappelte sich auf. »Ich muss jetzt ins K-K-Küchenzelt zurück«, stammelte er. »Wir sehen uns später.«

Die verborgene Seite des Mondes
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